Thomas Hafer
Das Aufstellungsphänomen ist zutiefst irritierend.
Wir Aufsteller haben uns zwar dran gewöhnt und es gibt eine anerkannte wissenschaftliche Erklärung, die ist aber völlig unanschaulich und im Grunde ebenso irritierend wie das Phänomen selbst. Alles ist mit allem auf eine geheimnisvolle Weise verbunden. Es gibt Einsichten ohne Informationen und ohne Denken, aus einer nicht verstehbaren Quelle. Diese Irritation ist kostbar. Die moderne Physik geht ihr auf wissenschaftliche Weise nach. Wir können ihr auf ganz persönliche Weise nachgehen, im nach innen lauschen. Das ist der Kern von Spiritualität.
Das spirituelle Weltbild unterscheidet zwischen Ego und einer absoluten Wirklichkeit.
Das Ego im Unterschied zu unserem wahren Wesen kann man ganz kurz in drei Aspekten beschreiben. Es ist identifiziert mit den Kindheitswunden und den daraus kommenden Ängsten und verfestigten Schutz-Strukturen. Es ist identifiziert mit der Überzeugung, dass nichts im Leben gelingen kann ohne das eigene angestrengte Streben und Machen. Und vor allem ist es als der ständige Denker der große
Konstrukteur vermeintlicher Wirklichkeit.
Die Philosophie des Konstruktivismus hat dies sehr richtig erkannt. Das Ego konstruiert mit seinem Denken eigene Wirklichkeiten, konstruierte Annahmen über sich selbst und andere und die Welt und das Leben. Der Irrtum des Konstruktivismus aber ist die Behauptung, es gebe im menschlichen Bewusstsein gar nichts anderes als Konstruktionen.
Es gibt Wirklichkeit. Das Sein, wie es in einigen spirituellen Traditionen genannt wird, und das ist für das menschliche Bewusstsein sehr wohl kontaktierbar. Dazu braucht es still werdendes unmittelbares Gewahrsein. Dies kann kleine oder große Wirkungen haben. In einem spektakulären Erleuchtungserlebnis kann plötzlich ein absolutes Verstehen der Natur allen Seins, auch des eigenen, aufleuchten. Es können aber auch kleinere Einsichten aufscheinen, die auf völlig überraschende Weise in einem einzigen Moment Probleme lösen und neue Räume für das Leben öffnen. Genau das geschieht oft in einer Aufstellung.
Die Stellvertreterwahrnehmung kann unmittelbares Gewahrsein sehr leicht öffnen, weil sie frei ist vom Ego des Klienten.
Darum funktioniert sie so überraschend leicht und schnell, präzise und wirksam. Wenn wir dieses Potenzial in unserer Aufstellungsarbeit verstehen und nutzen, kann sich die Wirkung unserer Aufstellungsprozesse sehr vertiefen und gleichzeitig unsere Arbeit viel entspannter und leichter werden. Dazu braucht es aber ganz praktisch bestimmte Qualitäten in der Vorgehensweise und auch in der Persönlichkeit des Leiters.
Thesen
1. Die Stellvertreterwahrnehmung ist unmittelbares Gewahrsein. Dieses ist Ziel und gleichzeitig Weg des Übens vieler spiritueller Schulen.
2. Spiritualität ist Kontakt mit dem Absoluten.
3. Alltag ist Identifikation mit den eigenen Konstruktionen.
4. Unmittelbares Gewahrsein ist eine Tür zu spirituellen Erfahrungen.
5. Erfahrungen im unmittelbaren Gewahrsein machen glücklich.
6. Die Stellvertreterwahrnehmung öffnet sich für Ungeübte.
7. Unmittelbares Gewahrsein braucht Fokus und Stille.
Thomas Hafer
Studierter Philosoph, HP-Psych, Vorsitzender der DGfS
Langjähriger Schüler der Ridhwan-Schule, die spirituelle Traditionen wie Zen mit moderner Psychologie verbindet
Erfahrener Therapeut, Aufsteller, Weiterbildner und Leiter von Retreats und fortlaufenden Online-Gruppen
zur spirituell orientierten Persönlichkeitsentwicklung
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